Gesellschaft für bedrohte Völker (gbvs.ch /Alexandra György / Franziska Stocker)
Zoom auf einen vergessenen Krieg

„Coca: Die Taube aus Tschetschenien" erzählt die Geschichte von Zainap Gaschajewa die unermüdlich die jahrzehntelangen Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land dokumentiert. Der Dokumentarfilm von Eric Bergkraut hat seit seiner Premiere an der Berlinale vor zwei Jahren zahlreiche internationale Preise gewonnen. Welche Bedeutung hat das Werk für die Protagonistin und den Regisseur heute? „Ich bin eine einfache Frau, die ihre vier Kinder grossgezogen hat. Und ich filmte, was ich, was alle Frauen zu sehen bekamen“, erzählt Zainap Gaschajewa ruhig, aber nachdrücklich, über ihre Arbeit. „Die Russen haben die Tschetschenen immer als grausam und wild dargestellt. Ich habe eine andere Seite von Tschetschenien und dem Krieg aufgezeigt.“ Mit einfachsten Kameras dokumentiert die Menschenrechtsaktivistin, von ihren Eltern Coca, die Taube, genannt, das Verschwindenlassen, die Folter und die Morde, die seit 1994 den Alltag in ihrem Land prägen. Zusammen mit anderen mutigen Frauen hat sie die vielen so entstandenen Videos und Fotos jahrelang versteckt, bevor sie sie über die Grenze schmuggeln konnten.

Internationale Anerkennung „Der Dokumentarfilm von Eric Bergkraut über meine Arbeit ist in Wirklichkeit das Werk von all den Frauen, die hinter mir stehen“, unterstreicht Zainap Gaschajewa, „ich sehe mich nicht als alleinige Protagonistin.“ Und sie vervollständigt: „Ich bin nicht die erste, die über den Krieg berichtet, aber es ist das erste Mal, dass der Erfolg eines solchen Filmes weltweit ist.“ Tatsächlich hat der Dokumentarfilm verschiedene Auszeichnungen erhalten, darunter alleine dieses Jahr den „International Human Rights Movie Award" an der Berlinale und den Ehrenpreis des 4. Marler Fernsehpreises von Amnesty International.

„Preisvergaben sind ein politischer Akt“, ist Regisseur Eric Bergkraut überzeugt, „sie haben damit zu tun, was opportun ist. Der Film hat aber auch viele Leute aufgewühlt, es wurde ihnen bewusst, wie schlimm die Situation in Tschetschenien ist.“ Zainap Gaschajewa hat „Coca: die Taube aus Tschetschenien“ erst bei der Premiere ganz gesehen. „Bei den Dreharbeiten hatte ich den Eindruck, die Militärproblematik sei nicht genug ersichtlich“, erinnert sie sich. „Als der Film jedoch auf der Leinwand lief, hatte ich Angst, die Zuschauer würden durch die Gewalt abgeschreckt. Das Publikum hat jedoch sehr positiv und ermutigend reagiert. Erst da realisierte ich, wie wichtig der Film ist.“

Obwohl die Frauen die Hauptrollen im Film spielen, gibt der Regisseur zu, einen gewissen Stolz für sein Werk zu empfinden, da er das Projekt auch durch manch schwierige Phase hindurchgezogen hat. „Im Juli 2005 ist der Film in den Schweizer Kinos total durchgefallen, erinnert sich Eric Bergkraut an den Kinostart. „Es war ein heisser Sommer und schwer, überhaupt einen Verleiher zu finden.“ Inzwischen ist „Coca“ in 30 verschiedenen Ländern gezeigt worden. „Ich wollte einen Film machen, der zugleich menschlich und politisch ist, der zum Teil in den Alltag der Menschen greift“, erklärt Bergkraut. „Es war mir dabei wichtig, subtil und doch eindeutig zu sein.“

Persönliches Engagement Was ihn dazu bewogen hat, diesen Film zu drehen? Darauf hat der Filmemacher eine sachliche und eine persönliche Antwort. „Durch Zufall machte ich hier in der Schweiz die Bekanntschaft von jungen Tschetschenen und wollte aufzeichnen, wie sie unser Land sehen. Dieses Projekt kam nicht zustande, dafür habe ich Zainap Gaschajewa kennengelernt.“ Bergkraut verweist aber auch auf seinen Familienhintergrund, auf seinen Vater der als Wiener Jude 1938 zur Emigration gezwungen war. „Niemand in seiner Schule interessierte sich dafür, wie es ihm erging“, betont er. „Dies macht mich betroffen. Wir alle tragen Verantwortung, für das was auf der Welt geschieht. Es gibt das Schweigen, dass tötet.“ Doch der Filmemacher sieht sich nicht als Aktionist oder Propagandist für Tschetschenien, sondern versucht, sich selber und die Welt besser zu verstehen. Dieses Jahr feiert der Vater von drei Söhnen seinen 50. Geburtstag und bekundet: „Ich werde die Welt nicht mehr verändern. Aber es geht darum, eine engagierte Haltung einzunehmen.“ Er hofft jedoch, dass seine Kinder, die Jugend allgemein, die Welt noch umkrempeln wollen. Tschetschenien sieht er als Beispiel für den Wahnsinn auf unserem Planeten. „Die Empörung darüber, wie schlecht es um gewisse Dinge steht, sollte nie verloren gehen. Trotzdem sollte man auch das Schöne nicht aus den Augen verlieren, etwas auch einmal richtig geniessen.“ Aufzeichnung einer vertuschten Wahrheit Es gibt zahlreiche Bücher und Ausstellungen zum Thema Tschetschenien. Was kann Kunst für den Konflikt im Nordkaukasus bewirken?  „An allen Veranstaltung im Zusammenhang mit der Filmvorführung habe ich moralische Unterstützung erhalten und konnte auf die Probleme in meinem Land aufmerksam machen“, antwortet Zainap Gaschajewa. „Auch Politiker haben den Film gesehen und waren sehr betroffen. Als mir in Köln der Lew Kopelew-Preis für Menschenrechte übergeben wurde, hielten Delegierte des Europarates Reden über die unfassbaren Gräueltaten in Tschetschenien“, fährt die Menschenrechtlerin fort. „Kunst wirft Fragen auf und erregt Aufmerksamkeit, so kann sie menschenrechtliche Anliegen unterstützen. Die offiziellen Behörden Russlands beispielsweise behaupten, es gäbe kein Problem in Tschetschenien. Der Film „Coca“ beweist das Gegenteil.“ Filmemacher Bergkraut freut sich, wenn Dokumentarfilme als Kunst betrachtet werden: „Diese zeigen nämlich nicht die Wirklichkeit, sondern eine Interpretation davon. Genau das ist Kunst.“ Und Zainap Gaschajewa fügt hinzu, auch für die Tschetschenen sei es sehr interessant, sich mit Hilfe der Kunst zum Thema Krieg auszudrücken. Von negativen Reaktionen auf „Coca“ können weder die Protagonistin noch der Filmemacher berichten. „Allerdings hat keiner in Russland oder Tschetschenien den Film gesehen“, gibt die Menschenrechtsaktivistin zu bedenken. „Nur einzelne Personen haben nachgefragt, aber niemand von offizieller Stelle.“ Sie wünsche sich jedoch nicht, dass die russischen oder tschetschenischen Behörden den Film sehen. „Ich bin mir ihrer negativen Reaktionen sicher. Aus ihrer Sicht handelt es sich um einen schlechten Film, schliesslich werden sie darin beschuldigt, den schmutzigen Krieg zuzulassen“, meint Zainap Gaschajewa.

Ein neues Projekt Eric Bergkraut sieht sich nicht als Menschenrechts-Filmemacher, trotzdem ist sein nächstes Projekt ein Dokumentarfilm über die im Oktober 2006 ermordete russische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaia. „Ich habe lange gezögert“, gesteht der Regisseur, „mich wieder mit so abscheulichen Dingen zu beschäftigen. Andererseits habe ich so viel Material zur Verfügung, dass ich mich fast verpflichtet fühle.“ Anna Politkowskaia wirkte in „Coca“ in der Rolle der differenzierten Berichterstatterin mit. Eric Bergkraut beschreibt sie als Frau mit starken moralischen Grundsätzen und ergänzt abschliessend: „Anna wusste, dass sie auf den Tod zugeht. Trotzdem möchte ich sie nicht heroisieren, sondern hoffe, einen menschlich packenden und berührenden Film zu drehen.“ Alexandra György (Text)/Franziska Stocker (Interview) www.cocathedove.com

Tagblatt der Stadt Zürich; 02.06.2005; Seite 9
COCA: DIE TAUBE AUS TSCHETSCHENIEN

Bilder vom und gegen den Krieg

Die einen in «Coca: Die Taube aus Tschetschenien» erzählen von ihren spurlos verschwundenen Gatten. Die anderen berichten von den verstümmelten Leichen ihrer Söhne, die sie in ihren Gärten fanden, und von den Kindern, welche den Ermordungen ihrer Eltern zusahen.

Der eindrücklichste Bericht in diesem aufwühlenden Dokumentarfilm vom Schweizer Eric Bergkraut aber stammt aus dem Mund der Titelheldin Sainap Gaschaiewa, genannt Coca, die erzählt, wie sie einmal die Erschiessung eines etwa 19-jährigen Jungen filmte.

Als sie mit der Kamera näher ging, meint Gaschaiewa, habe sie gemerkt, dass er noch lebte. Blaue Augen, blütenweisser Körper, habe er unter ihren Augen seinen letzten Atemzug getan - sie aber müsse nun mit dieser Erinnerung an sein Sterben weiterleben.

Erschütternd und hoch politisch ist Eric Bergkrauts Film. Er verwebt Interviews und Aufnahmen mit den Videos und Fotos, die seine Protagonistinnen im Laufe der letzten zehn Jahre in ihrer Heimat heimlich - und oft unter Bedrohung des eigenen Lebens - drehten, und zeugt dabei in fiebriger Dringlichkeit von einem Krieg und einem Völkermord, an denen das offizielle Europa indifferent schweigend seine Mitschuld trägt. Irene Genhart

«Coca: Die Taube aus Tschetschenien» im Arthouse Movie

Opfer eines unbarmherzigen Krieges.

Zueri Tipp - Kritik und Leser-Rating
Todesmutige Anklage

Eric Bergkraut porträtiert eine Frau, die Kriegsverbrechen in Tschetschenien dokumentiert, um die Weltöffentlichkeit aufzurütteln.

Von Agathe Blaser

In der verblüffendsten Szene von Eric Bergkrauts Dokumentarfilm wird ein russischer Politiker gefragt, ob er in drei Sätzen den Tschetschenien-Konflikt beschreiben könne. Dieser erwidert mit ausdruckslosem Gesicht: «Mir genügen zwei Wörter: internationaler Terrorismus.» Dieses Schlagwort ist offenbar nicht nur in den USA, sondern auch in Russland ein probates Mittel, um unbequeme Diskussionen im Keim zu ersticken. In diesem Fall: die Diskussion über zwei Kriege, in denen seit 1994 über 200 000 Tschetschenen, die meisten davon Zivilisten, getötet worden sind.

Was dies konkret bedeutet, nämlich Völkermord, versucht in Tschetschenien eine Gruppe von Menschenrechts-Aktivistinnen zu dokumentieren. Eine dieser Frauen ist die von Bergkraut porträtierte Sainap Gaschaiewa mit dem Spitznamen Coca (Taube). Seit zehn Jahren engagiert sie sich als Chronistin des Tschetschenien-Konflikts, der inzwischen zum Inbegriff eines «vergessenen Kriegs» geworden ist. Unter Lebensgefahr schmuggelt sie Fotos, Videoaufzeichnungen, Zeugenaussagen und Namenslisten von Ermordeten oder Verschollenen nach Europa und hofft, mit Hilfe dieser Dokumente die Weltöffentlichkeit wachzurütteln und die Schuldigen vor ein internationales Tribunal zu bringen.

Das so entstandene Archiv der Gräueltaten, aus dem Gaschaiewa in Bergkrauts Film Ausschnitte zeigt und kommentiert, wirkt schockierend wie Bilder des Holocaust. «Coca - Die Taube aus Tschetschenien» ist ein erschütternder Film: sowohl wegen dieser Szenen als auch, weil offen bleibt, ob es die todesmutige Frau überleben wird, sich derart zu exponieren.

Neue Zürcher Zeitung; 01.06.2005; Seite 41; Nummer 125
Massaker - visuell potenziertes Grauen

Drei Filme zu Tschetschenien und Libanon

Charles Martig

«Massaker», «Albtraum Tschetschenien» und «Coca - Die Taube aus Tschetschenien» heissen drei Dokumentarfilme, die auf ganz unterschiedliche Weise die Problematik der Darstellung von Massakern angehen. Am bewusstesten die letztgenannte Produktion.

Bei der Darstellung von Gewalt und Leiden ist eine «Ethik der Bilder» gefordert, wie sie im Pressekodex für Medienschaffende festgelegt ist. Durch die starke Medialisierung und Live-Schaltung bei Katastrophen, bewaffneten Konflikten und Massakern stellt sich jedoch eine neue Herausforderung. Weitgehend unabhängig von der Bildauswahl in den Fotoagenturen und Redaktionen erzeugt das globale Mediensystem im Live- Modus eine zynische Potenzierung von Angst und Grauen beim Publikum. Neue Filme zum Thema «Massaker» zeigen, dass die Verletzung der betrachtenden Menschen durch Bilder der Gewalt wieder neu diskutiert werden muss. Schockierend ist dabei der Umgang mit den Opfern aus der Täterperspektive.

Die Sicht der Soldaten - «Weisse Raben»

Durch die Geiselnahme von Beslan im September 2004 hat Tschetschenien als Ort der Gewalt wieder internationale Bedeutung bekommen. Es scheint eine logische Folge des Mediensystems zu sein, dass ausgerechnet ein Massaker an russischen Kindern die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit derart stark fokussiert hat. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchen Bildern der Konflikt in Tschetschenien dargestellt werden kann? In «Weisse Raben - Albtraum Tschetschenien» haben Tamara Trampe und Johann Feindt die Perspektive der russischen Soldaten eingenommen. Diese jungen Männer werden als Opfer gezeigt, körperlich und psychisch verstümmelte Menschen, die nach der Rückkehr vor einem Abgrund stehen.

Die Filmbilder sind rau und ungeschliffen, die Farben in grauen und blauen Tönen. Es werden kaum Bilder von Toten und Misshandelten gezeigt. Ein Leitmotiv bilden die russischen Panzer auf den Strassen von Grosny. Die Bilder der Opfer geistern als Videostandbilder durch den Film. Besondere Bedeutung erhält das Bild einer tschetschenischen Partisanin, die, umringt von russischen Soldaten, inmitten einer Gruppe von Kämpfern kniet, die Hände über dem Kopf. Sie schaut direkt in die Kamera. Die Erschiessung ist ihr gewiss, und wir erhalten als Zuschauende die Möglichkeit, ihren letzten Blick aufzunehmen.

Soldatenmütter, Rückkehrer und Journalisten erhalten die Foto zur Ansicht und geben ihre Meinung ab: Was ist hier geschehen? Wo wurde die Aufnahme gemacht? Wird die Frau sterben? Gegen Ende des Films erfahren wir, dass der Kameramann, der diese «Säuberungsaktion» aufgenommen hat, bekannt ist, dass er genau weiss, was vorgefallen ist. Angesichts dieser Lenkung des Blicks auf eine falsche Fährte steht die Glaubwürdigkeit der Filmschaffenden auf dem Spiel.

Die Sicht der Frauen - «Coca»

Der Schweizer Eric Bergkraut entscheidet sich mit «Coca - Die Taube aus Tschetschenien» für die Perspektive der Frauen, die sich als Menschenrechtsaktivistinnen engagieren. Im Zentrum steht Sainap Gaschajewa, die als Leiterin der Organisation Echo of War minuziös die Massaker in Tschetschenien dokumentiert. Unter Gefährdung des eigenen Lebens hat sie auf Video festgehalten, was im Hinblick auf zukünftige internationale Gerichtsverfahren als Beweismaterial wichtig sein kann. Doch das Fassungsvermögen der Bilder scheint zu begrenzt, um das Grauen wirklich darstellen zu können. Schon am Anfang des Films werden Kriegsopfer sichtbar, wie wir sie aus den TV-Nachrichten nicht kennen.

Der Dokumentaristin fällt ihre Arbeit äusserst schwer: Erst beim näheren Hinsehen mit der Kamera habe sie bemerkt, dass der Knabe, dessen Unterleib und Beine völlig zerfetzt sind, noch lebt. Diese Bilder, die sie sammelt, sind plötzlich auf der grossen Leinwand sichtbar. Es sind keine Toten, sondern Fleischhaufen, wie eine der Frauen sagt. Der unmittelbare Blick auf Menschenreste lässt den Zuschauer schockiert zurückweichen. Bei solchen Bildern gibt es ein ethisches Dilemma wie bei den Bildern von Folterungen aus Abu Ghraib. Als Beweise für die Massaker der russischen Besatzungsmacht in Tschetschenien sind sie gerechtfertigt, als Bilder der Opfer auf der Kinoleinwand verletzen sie die Achtung vor der Würde der Opfer, der Getöteten und Misshandelten.

Sie sind gleichzeitig eine Zumutung für den Betrachter. Bergkraut begegnet diesem Dilemma zwischen den «Bildern, die beweisen», und den «Bildern, die verletzen», mit einer dramaturgischen Ordnung des Materials. Gaschajewa - von ihrer Familie mit dem Kosenamen Coca, die Taube, versehen - kommentiert die gezeigten Bilder, ordnet sie ein und zeigt, wie die Dokumente entstehen. Sie sitzt im Wohnzimmer neben einem grossen Stapel von Videokassetten, die sie vor Jahren vergraben hat und nun wieder zum Vorschein bringt. Nach den ersten Sequenzen lässt sich erahnen, welcher Schrecken in diesen Kassetten verborgen liegt.

Der Regisseur hat Gaschajewa als Leitfigur gewählt, weil er Partei ergreifen will. Aus dieser Erzählhaltung heraus bettet er sein Material in den internationalen Kontext ein und zeigt, wie die Protagonistin in die Schweiz reist. Gerade dieser Bezug zu Westeuropa macht deutlich, wie sehr die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aus der politischen Agenda verdrängt werden. Unterstützung erhält Gaschajewa von Walter Kälin, seit 2004 Uno-Sonderbeauftragter für die Menschenrechte Vertriebener, von Andreas Gross, dem Tschetschenien-Beauftragten des Europarats, und von Walter Egli, einem reformierten Pfarrer aus Pfäffikon.

Dieser zweite Teil des Films ist konventionell gestaltet, vielleicht auch etwas zu sehr an die Solidaritätsadresse appellierend. Brillant ist hingegen die Analyse der russischen Journalistin Anna Politkowskaja, die das Verhalten der Russischen Föderation als kolonialistisches Erbe der Sowjetunion diagnostiziert. Tschetschenien wurde von der russischen Regierung und Armee zum geschlossenen Territorium gemacht. Justizminister Juri Tschaika bringt den Konflikt auf zwei Worte: «internationaler Terrorismus», doch der Film gibt den Frauen das Wort. Sie sprechen die deutlichste Sprache.

Die Sicht der Killer - «Massaker»

«Massaker» ist ein skandalös überflüssiger Film, der die Sicht der Täter in den Fokus der visuellen Geschichtsschreibung rückt. Am 16. 9. 1982 umstellt die israelische Armee die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Shatila in Westbeirut. Sie lässt jedoch bewusst Eingänge offen, durch die Soldaten der Falange und «christliche» Milizen Libanons in dieser Nacht ins Lager eindringen. Der Leitspruch heisst: «Die Grossen, die Kleinen, die Säuglinge. Keinerlei Mitleid.» Nach etwa 36 Stunden ist das Morden zu Ende, und zwischen 1000 und 3000 Leichen liegen am Boden.

Monika Borgmann, Lokman Slim und Hermann Theissen überlassen in «Massaker» über hundert Minuten lang den Killern das Wort. «Zuerst tötest du mit Widerwillen», erinnert sich einer der sechs auftretenden Täter, «beim zweiten und dritten Mal ist es schon leichter. Beim vierten Mal beginnst du es zu geniessen.» Die Bilder der Täter befinden sich in einem leeren Raum. Sie bekennen sich zu ihren Taten und halten sich doch versteckt. In starkem Gegenlicht und häufig in Nahaufnahmen gefilmt, erhalten wir zwar einen Blick in die psychische Verfasstheit und Motivation dieser Männer. Das Entscheidende, ihr Gesicht, bekommen wir nicht zu sehen. Es lässt sich nur mutmassen, dass sie vor Racheakten der Palästinenser Angst haben.

Der Film bietet eine psychopolitische Studie kollektiver Gewalt. Das ist sein nachhaltiges Verdienst. Doch äusserst bedenklich bleibt der Umgang mit den Bildern der Opfer. «Massaker» ist ein Skandal, ein Aufreissen der Wunde. Wir befinden uns auf ethischem Neuland. Der Blick der Täter im Verhältnis eins zu eins gleicht einem Sprung in den Abgrund des Wahnsinns und der Brutalität; ohne Auffangnetz wohlgemerkt.

Charles Martig

Charles Martig ist Filmpublizist und Geschäftsführer des Katholischen Mediendienstes in Zürich, www.kath.ch

Der Film «Coca - Die Taube aus Tschetschenien» läuft in Zürich ab Donnerstag im Kino Arthouse Movie.

Die Wochenzeitung; 02.06.2005; Seite 15
«Alle Tschetschenen sind Geiseln dieses Kriegs»

Tschetschenien-Film · Der Schweizer Filmer Eric Bergkraut hat mit «Coca: Die Taube aus Tschetschenien» die Arbeit der Menschenrechtsaktivistin Sainap Gaschajewa dokumentiert. Ein Gespräch mit der Protagonistin und ihrem Regisseur.

Von Geri Krebs (Interview) und Ursula Häne (Foto)

WOZ: Wie präsentiert sich heute die Lage in Tschetschenien, gut ein halbes Jahr nach Abschluss der Dreharbeiten des Films von Eric Bergkraut?

Sainap Gaschajewa: Es hat sich kaum etwas verändert, tendenziell kann man jedoch feststellen, dass die Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung früher meist von Soldaten der russischen Zentralarmee, den so genannten föderalen Kräften, begangen wurden. Heute dagegen sind dafür meist prorussische tschetschenische Kräfte verantwortlich.

Eric Bergkraut: Es ist die erklärte Politik des Kremls, den Konflikt zu «tschetschenisieren». Dies bedeutet, man ist daran, eine Schicht von Einheimischen aufzubauen, die jetzt das Geschäft Moskaus, die Politik der Kolonialherren, betreibt. Das Problem ist dabei, dass diese Kräfte nicht mehr kontrollierbar sind. Mit «diese Kräfte» meine ich den Clan um Ramsan Kadyrow, den Sohn des im Mai 2004 ermordeten Präsidenten Ahmed Kadyrow. Dieser hat sich verselbständigt, er ist so etwas wie der Zauberlehrling der Russen; man sagt, er verfüge über rund viertausend Mann. Es sind heute weitgehend diese Leute, die das Land terrorisieren.

Wann waren Sie zum letzten Mal in Tschetschenien?

S.G.: Das war Mitte März, ich hielt mich für einige Tage in der Hauptstadt Grosny auf. Dort bekam ich aus nächster Nähe wieder einmal mit, wie das läuft, was Moskau «Säuberung» nennt: Maskierte, schwer bewaffnete Männer stürmten ein fünfstöckiges Wohnhaus. Sie brachen in sämtliche Wohnungen ein, plünderten sie teilweise und nahmen elf junge Männer mit. Zehn von ihnen sind seither spurlos verschwunden, von einem tauchte die Leiche auf; den Angehörigen teilte man mit, sie könnten sie gegen Bezahlung von tausend Dollar abholen.

E.B.: Ich reiste nur ein einziges Mal nach Tschetschenien, im Juni 2004. Dies geschah im Rahmen einer jener Pressereisen, die ab und zu von Moskau für ausländische Medienleute organisiert werden. Das war ein gespenstisches, surreales Spektakel, das der internationalen Öffentlichkeit im Vorfeld der Wahlfarce vom August 2004 eine angebliche Normalisierung demonstrieren sollte. Einige wenige Bilder dieser Reise habe ich am Schluss auch für meinen Film verwendet. Derartige, im schwer bewaffneten Konvoi veranstaltete Reisen sind für ausländische Journalisten die einzige legale Möglichkeit, um in das geschlossene Territorium Tschetschenien zu gelangen.

Der Ansatz Ihres Filmes ist ja auch ein anderer als der einer möglichst authentischen Kriegsberichterstattung.

E.B.: Ja genau, denn im Mittelpunkt stehen bei mir die Frauen um Sainap, die mit ihrer Dokumentationsarbeit seit zehn Jahren einen möglichst authentischen Abdruck dieser grauenhaften Realität geben. Und mich haben dabei auch immer wieder analytische, hintergründige Dinge interessiert, wie etwa die Fragen: Wie verhält sich Realpolitik zu Moral? Was hat das mit uns zu tun? Und wenn anlässlich eines kürzlichen Treffens Vladimir Putins mit Gerhard Schröder Ersterer die vorzeitige Rückzahlung eines Schuldenpakets in der Höhe von fünf Milliarden Euro an Deutschland bekannt gibt, dann muss man sich nicht wundern, dass Schröder angesichts der serbelnden deutschen Wirtschaft das Thema Menschenrechte in Tschetschenien nicht auf die Prioritätenliste setzt.

Eine naive Frage: Warum darf Tschetschenien in den Augen Moskaus unter keinen Umständen unabhängig sein?

E.B.: Das ist keine naive Frage, sondern eine höchst komplexe Geschichte. Ich kann sie vielleicht am besten anhand einer Begegnung - die auch in den Film Eingang gefunden hat - illustrieren: Als ich Ahmad Kadyrow 2003 in Genf traf, sagte dieser im Gespräch mit Sainap: «Für die Russen ist der Krieg ja gut, sie kommen hierher, sie werden dekoriert, und es gibt etwas zu verdienen. Deshalb wollen sie, dass er weitergeht.» Das sagt, wohlgemerkt, jener Mann, der von Putin mittels einer Wahlfarce als Präsident von Russlands Gnaden ins Amt gehievt wurde. Und gleichzeitig ist es jener Mann, der im ersten Krieg von 1994 bis 1996 seine Landsleute aufforderte, so viele Russen wie möglich zu töten, um ins Paradies zu kommen - und wenige Jahre später wechselte er dann die Seiten. Das zeigt vielleicht ansatzweise, wie verworren das Ganze ist und weshalb es vermutlich so bald weder eine Unabhängigkeit noch ein Ende des Krieges geben wird.

S.G.: Wir Tschetschenen und Tschetscheninnen sind kein besonders kriegerisches Volk, wie das manchmal behauptet wird, aber wir wollen seit zweihundert Jahren unsere Unabhängigkeit. Und dies keineswegs als blindlings verfolgtes Ziel, vielmehr waren wir uns stets bewusst, dass wir nur in einem engen Zusammenleben mit Russland existieren können. Ich erinnere daran, dass selbst Boris Jelzin 1990, in der Endphase der Sowjetunion, in einer an die Völker des Kaukasus gerichteten Rede sagte: Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr könnt.

Einige Geiselnahmen tschetschenischer Kommandos, wie etwa jene in der Schule von Beslan (2004) oder im Moskauer Musicaltheater (2003), haben weltweit Empörung ausgelöst und Putin den Vorwand zu noch härterem Vorgehen in Tschetschenien gegeben. Wie stehen Sie zu diesen Terrorakten?

E.B.: Für mich ist klar, die Tschetschenen und Tschetscheninnen sind nicht nur arme Opfer, die international keine Lobby haben, es gibt unter ihnen auch Täter, die Schreckliches angerichtet haben - und ich hatte mit Sainap im Vorfeld des Films auch intensive Diskussionen darüber. Keine noch so brutalen Kriegsgräuel rechtfertigen diese Geiselnahmen.

S.G.: Ich kann mich diesem letzten Satz von Eric nur anschliessen, möchte aber trotzdem zu bedenken geben, dass seit über zehn Jahren alle Tschetscheninnen und Tschetschenen zu Geiseln geworden sind, zu Geiseln dieses fürchterlichen Krieges. Und ich meine, man hätte diese Geiselnahmen anders beenden können, nämlich indem man erst einmal auf die einzige Forderung der Geiselnehmer - Abzug der russischen Truppen - zum Schein eingegangen wäre und man dann die Geiselnehmer verhaftet hätte. Doch Putin und seine Leute wollten möglichst viele Tote, um danach mit noch grösserem Staatsterror in Tschetschenien wüten zu können.

Für den Film hatten Sie, Eric Bergkraut, mit dem von Sainap gesammelten Material Horrorbilder zur Verfügung, die in ihrer Scheusslichkeit grenzenlos sind. In einer der ersten Szenen des Films bekommt man auch einen Eindruck davon, ansonsten ersparen Sie uns Zuschauern und Zuschauerinnen aber den zu direkten Schrecken weitgehend. Wie haben Sie entschieden, was zeigbar ist und was nicht?

E.B.: Für mich war von Anfang an klar, dass die Frauen, die diese Bilder «herstellen», im Zentrum stehen sollten und nicht die Kriegsgräuel. Dabei wollte ich diese Frauen auch in ihrem sozialen Umfeld zeigen, beispielsweise Sainap, deren Mann Bienen züchtet und der als Muslim ein sehr ambivalentes Verhältnis dazu hat, dass seine ebenfalls muslimische Frau in der Welt herumreist und dabei mit vielen Männern zusammentrifft. So versuchte ich, eine Nähe zu schaffen, die bewirken soll, dass man sich diese Schreckensbilder auch anders ansieht. Ich finde allerdings schon, dass ich an manchen Stellen sehr viel zeige. Aber niemals um zu schockieren, das ist in diesem Fall wirklich nicht nötig, sondern um eine Idee davon zu geben, was die Tschetscheninnen und Tschetschenen erlebt haben, welche Arbeit die Frauen leisten und wie sie selber mit ihren Dokumenten umgehen. Ich bin der Meinung, dass die stärksten Bilder jene sind, die sich erst in unserem Kopf zusammenfügen - das gilt auch im Zusammenhang von Krieg und Terror, deshalb spielen die Auslassung und die Leere in meinem Film eine wichtige Rolle.

«Coca: Die Taube aus Tschetschenien». Regie: Eric Bergkraut. Schweiz 2005. Ab 2.6. in Zürich (Kino Movie) und Winterthur (Kino Loge); weitere Städte folgen.

Eric Bergkraut und Sainap Gaschajewa

Der Zürcher Dokumentarfilmer Eric Bergkraut porträtiert in «Coca: Die Taube aus Tschetschenien» die tschetschenische Menschenrechtsaktivistin Sainap Gaschajewa. Die couragierte Frau, die derzeit anlässlich des Filmstarts in der Schweiz weilt, dokumentiert seit zehn Jahren zusammen mit einigen anderen Frauen mittels Foto- und Videokamera das Geschehen in ihrer Heimat. Das Ziel ihrer lebensgefährlichen Arbeit ist es, dereinst das Material einem internationalen Tribunal zu diesem vergessenen Krieg zur Verfügung stellen zu können.

Tages Anzeiger Zürich, 03.06.2005; Seite 57
Aufrüttelnde Bilder

Der Dokumentarfilm «Coca: die Taube aus Tschetschenien» von Eric Bergkraut richtet einen Appell an die westliche Welt.

Von Nicole Hess

Sainap Gaschajewa ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Seit zehn Jahren dokumentiert die Menschenrechtsaktivistin mit einer Videokamera die Gräuel des Krieges in Tschetschenien. Die Kamera unter dem weiten Pullover versteckt, reist sie durch das von der Weltöffentlichkeit vergessene Kriegsgebiet und hält Leichenberge, zerfetzte Körper, zerbombte Dörfer fest. Ergänzend zum Bildmaterial zeichnet sie die Lebensgeschichten und Todesumstände der Menschen auf. Mit ihrem Archiv, das mittlerweile über 200 Videokassetten umfasst, hat die couragierte Frau vor allem eins im Sinn: Beweismaterial zu liefern für zukünftige internationale Gerichtsverfahren. Bis dahin bleiben die Videokassetten an unterschiedlichen Orten (London, Nasran, Moskau) versteckt.

Gaschajewa ist die Leitfigur im Dokumentarfilm «Coca: die Taube aus Tschetschenien» des Schweizer Filmemachers Eric Bergkraut. Er lernte die Aktivistin vor drei Jahren kennen, als sie in Bern den Preis der Stiftung für Freiheit und Menschenrechte erhielt, die finanziell für die Archivierungsarbeit aufkommt - und begann sich für das Land am Rande Europas, das von der russischen Regierung zur «geschlossenen Zone» gemacht wurde, zu interessieren. Während mehrerer Monate hat Bergkraut die vierfache Mutter und Leiterin der Organisation Echo des Krieges, die sich um Waisenkinder und Minenopfer kümmert, begleitet. Nicht nur bei der fotografischen Arbeit im Kriegsgebiet. Sondern auch auf Reisen in den Westen, wo sie, basierend auf Fotomaterial, Politiker und Parlamentarier über die Massaker der russischen Besatzungsmacht in Tschetschenien aufzuklären versucht.

Reflexive Ansätze

Im ersten Teil von Eric Bergkrauts Film sind Videoaufnahmen von Coca (die «Taube», wie die etwa Fünfzigjährige von ihrer Familie genannt wird) zu sehen, die sie selber auch erläutert und kommentiert. Eines der erschütterndsten Bilder zeigt einen Knaben, dessen Unterleib und Beine zerfetzt sind. Erst beim näheren Hinsehen, sagt Gaschajewa, habe sie gemerkt, dass der Junge, während sie ihn filmte, noch lebte. Und man spürt, dass die Laienfotografin, die bei ihrer Arbeit täglich mit Sterben und Tod konfrontiert ist, in diesem Moment dennoch erschrickt, weil ihr die Rolle der Videokamera - die einem Sterbenden zuschaut - und die damit verbundenen ethischen Fragen bewusst sind.

Der reflexive Ansatz, der in dieser Szene anklingt, indem vor laufender Kamera über das Medium Bild und die Darstellung von Leiden und Tod nachgedacht wird, geht im weitern Filmverlauf leider etwas verloren. Ebenso eine klar erkennbare Erzählstruktur. Im Stil einer konventionellen Dokumentation, die Expertenmeinungen einander gegenüberstellt, lässt der Regisseur im zweiten Teil etwa den SP-Nationalrat und Tschetschenien-Beauftragten des Europarates, Andreas Gross, oder Walter Kälin, Uno-Sonderbeauftragter für die Menschenrechte Vertriebener, zu Wort kommen. Ihre Statements, die durch Aufnahmen von Gaschajewas unermüdlicher Aufklärungsarbeit ergänzt werden, verdeutlichen dabei die eigentliche Absicht des Films: Er will einen Appell an die westliche Welt richten.

Als sehr kompetente Gesprächspartnerin erweist sich bei der Einordnung des Konflikts die russische Journalistin und Buchautorin Anna Politkowskaja («Nowaja Gazeta» in Moskau). Die mit Preisen ausgezeichnete Redaktorin, die einen Vergiftungsversuch überlebte, als sie sich anerbot, im Geiseldrama von Beslan zu vermitteln, spricht von «Kolonialkrieg». Das offizielle Russland rechtfertigt sein Vorgehen mit «Krieg gegen den Terror».

«Coca: die Taube aus Tschetschenien» läuft in Zürich im Arthouse Movie 1.

Migros Magazine du 12 avril 05 sur
«Ce conflit montre l'impuissance de la mécanique onusienne!»

Visions de guerre et d'espoir

«Coca - La colombe de Tchétchénie» est un film sur l'horreur de la guerre. Réalisé par le Suisse Eric Bergkraut, il sera présenté au festival Visions du Réel, à Nyon, le 19 avril.

Attention! Ce film contient des images susceptibles de choquer certaines sensibilités!» C'est le petit avertissement qu'une speakerine glissera peut-être lorsque Coca - La colombe de Tchétchénie passera sur le petit écran. Ce documentaire, réalisé par Eric Bergkraut, Suisse né à Paris, n'est pour l'instant projeté que dans les festivals. Il a notamment été sélectionné dans le cadre de Visions du Réel, qui se déroulera à Nyon du 18 au 24 avril. Le film devrait sortir en mai dans les salles obscures.

Coca - La colombe de Tchétchénie retrace l'histoire de Sainap Gachayeva (certaines images ont été filmées par elle-même), et de son combat pour faire connaître au reste du monde les horreurs vécues par les Tchétchènes. La colombe, c'est elle: un surnom que lui donnaient ses parents lorsqu'elle était enfant.

De la télévision au cinéma

Son métier de réalisateur, Eric Bergkraut, 47 ans, l'a appris sur le tas, grâce à son expérience de journaliste à la télévision. La méthode semble lui avoir réussi.Dans son film, il trouve un juste équilibre entre la dimension tragique du conflit tchétchène et la légèreté des scènes de la vie quotidienne.

Suite de l’ article sur http://www.migrosmagazine.ch/index.cfm?rub=13

FICC (Föderation der Filmclubs) on Berlinale February 2005

A film I will never forget was the very courageous documentary, Coca – The Dove from Chechnya. Director Eric Bergkraut introduced us to Zainap Gashaeva, an activist who, along with other women, hid hundreds of videocassettes recording abductions, torture and murder which are taking place in her homeland. She campaigns tirelessly to try and get the West to call for a tribunal into these atrocities. This documentary, while brutal and, at times extremely graphic, was not at all sensationalistic but rather a balanced and extremely brave film about a woman whose tireless journey forces us all to re-examine our own values. by Alice Black, Ireland

Di redazione JGCinema

Torna invece sul sanguinoso conflitto nel Caucaso, il bel lavoro di Eric Bergkraut, ‘Coca’. The Dove from Chechenia. Qui siamo dalla parte cecena del conflitto. Non però dei soldati o dei combattenti, ma degli attivisti per i diritti umani. Così amano definirsi Coca e le altre donne che il film segue nella loro attività, parzialmente segreta, di conservazione della memoria e di denuncia della guerra genocidaria della russia. Segreta, perché molte di loro, dei loro amici e dei loro familiari, oggi sono morti, uccisi dai servizi russi, o scomparsi nel nulla, rapiti e mai più tornati. Per questo, sommerse dalla polvere, queste donne conservano, nascoste nelle loro case, videoregistrazioni che testimoniano delle distruzioni, dei massacri, delle fosse comuni in Cecenia. Le conservano perché sperano e lavorano perché la giustizia internazionale intervenga contro la Russia. In particolare il Consiglio d’Europa e la Corte di Strasburgo, a cui in molti si sono rivolti e che solo di recente ha dichiarato accettabile – e quindi analizzabile – un ricorso sulla situazione cecena, dopo averne respinti moltissimi. Le immagini delle cordiali strette di mano fra Putin e i governanti d’Occidente (Chirac e Schroeder in testa, ma non mancano Blair e Berlusconi, mentre poco si dice di Bush e degli Usa) fanno da corollario a questo distratto interessamento di Strasburgo. Dall’altro impressiona negativamente la figura di Ramzan Kadyrov, figlio dell’assassinato presidente e ora presidente della Cecenia lui stesso, uomo in quota di Mosca e ritratto come un gangster di quartiere. Ma più interessante ancora è la tesi politica che emerge dal film. Mentre la Russia fa di tutto per ridurre la questione cecena a un problema interno di terrorismo e mentre l’Occidente non ha alcuna intenzione di contrastare questa favola, per evidenti motivi e interessi, si sta assistendo da un lato a un silenzioso genocidio, e dall’altro a un’islamizzazione forzata dell’intero paese, in funzione anti-russa. Il wahabitismo è estraneo alla cultura e alla tradizione cecena – dice uno degli intervistati – ma bisogna pur riconoscere che questi combattenti – gli stessi del fronte afghano e irakeno – sono gli unici a non accettare la versione di Mosca e a combattere per l’indipendenza del paese. In queste condizioni si spiega l’islamizzazione. «Putin, la Cecenia non dimenticherà mai quello che hai fatto», grida disperato il padre di un partigiano ucciso. a cura di Filippo Del Lucchese [23.2.05]

Berliner Zeitung, Mittwoch, 23. Februar 2005
MUT

Zainap Gaschajewa ist Tschetschenin. Sie wurde in Kasachstan geboren als ihr Volk von Stalin dorthin verschleppt worden war. Seit 1994 ist sie mit einer Videokamera unterwegs und sammelt Eindrücke, Bilder und Worte, Zeugenaussagen und andere Beweismittel aus dem Krieg in Tschetschenien. Sie arbeitet zusammen mit den unterschiedlichsten Organisationen, natürlich auch mit den protestierenden Soldatenmüttern in Russland. Nach ihren Recherchen, die von anderen Beobachtern bestätigt werden, wurden in den letzten zehn Jahren bis zu dreißig Prozent der tschetschenischen Bevölkerung durch die russische Militärintervention umgebracht. Wir sind Zeugen eines gut dokumentierten Völkermordes, der sich nicht im fernen Afrika abspielt, sondern unmittelbar vor der Tür des europäischen Hauses. Wir nehmen ihn nicht wahr, weil der Duzfreund unseres Kanzlers, des Sozialdemokraten Gerhard Schröder ihn durchführt. Man wünscht sich, Gerhard Schröder würde die Gelegenheit nutzen, Zainap Gaschajewa, auf deren Leben Putins Geheimdienst es ein paar Mal abgesehen hatte, zu sprechen. Was würde er ihren durch die Fronten geschmuggelten Zeugenaussagen entgegenhalten? Hätte er den Mut, die Unverschämtheit, ihr zu sagen, Deutschland brauche mehr Wachstum, es brauche russisches Erdgas und russische Käufer für sein Produkte, da müssten die Tschetschenen mit ihrem lästigen Kampf um Unabhängigkeit halt erst einmal zurückstehen? Was würde Außenminister Joschka Fischer sagen? Was sollen die Tschetschenen denken von der Bereitschaft Europas sich für Freiheit und Menschenwürde zu engagieren, während sie niedergemetzelt werden von Wladimir Putin, der so angenehm mit diesen Freiheitskämpfern zu plaudern versteht. Seit drei Tagen ist Zainap Ga-schajewa wieder zurück in ihrer Heimat. Sie war ein paar Tage in Berlin. Eric Bergkraut hat einen Film über sie gedreht. Er war auf der Berlinale zu sehen und sie war es auch. Sie geht wieder zurück in zerschossene Städte und Bergdörfer, in Familien, in denen Mütter und Töchter vergewaltigt und Väter und Söhne erschossen wurden. Sie hat hier - so heißt es auch einmal im Film - wieder gelernt, in den Himmel zu schauen ohne die Angst dort Flugzeuge zu sehen, die sie bombardieren. Sie fährt fort, die Menschen zu befragen. Sie ist bewundernswert mutig. Aber bis vor zehn Jahren wusste sie selbst nicht, dass sie so viel Mut hat. Er wuchs ihr zu und manchmal scheint sie neben sich zu stehen und sich darüber zu wundern, dass das, was auch ihr im Film ganz außergewöhnlich erscheint, in Wahrheit ihr Alltag, ihr lebensgefährlicher Alltag ist. Er ist es auch, weil wir es zulassen.

Assorted Quotes after Berlinale

„This documentary makes for gripping viewing.“ -Manohla Dargis, New York Times, 21.02.05 „A shattering film.“ -Kira Taszman, Screen international, 19.02.05 “What was striking was that in the whole film there were no men. They are either dead, asleep or tending to bee hives. The women are doing the fighting by their own means.” -Thumsucker, The script factory 22.02.05 „Bergkraut verschont die Zuschauer nicht. Und doch vermittelt der Film auch Hoffnung. Diese Frauen strahlen so viel Entschlossenheit aus, etwas zu verändern, dass einem trotz allem warm um das Herz wird.“ -HE/netLounge, 23.2.05 „Un bel lavoro!“ -Filippo Del Lucchese, JGCinema, 25.02.05 „…hier betrachtet niemand bloss das Leid anderer - hier steht das eigene Leben ständig zur Disposition… Auf der Berlinale erhielten «Coca» und seine Protagonistin Zainap Gaschajewa stehende Ovationen.“ -Veronika Rall, Wochenzeitung, 24.02.05

Who can translate — Wer kann übersetzen?

From: Asociaţia LiterNet, Ada-Maria Ichim […]Tot sub semnul traumatic al masacrului de civili stă şi documentarul, din secţiunea Forum a festivalului, intitulat Coca - the Dove from Chechnya / Coca - porumbiţa cecenă. Ţinând cont că persoana despre care este vorba în film este o femeie în puterea vârstei, titlul devine patetic, şi chiar ridicol. Dar subiectul documentarului nu este. Din 1994 Zainap Gashaeva a înregistrat ceea ce se întâmplă zilnic în ţara ei natală, Cecenia: răpiri, torturi, crime. Ea şi alte femei ascund casete video şi le transportă în Vestul Europei, aducându-le ca mărturie în faţa tribunalelor internaţionale, sau doar arhivându-le pentru a fi folosite ca mărturii în procesele viitoare. Casetele sunt scoase din ziduri, curăţate de praful de ciment, negative şi fotografii sunt cărate în saci de plastic, pe străzile taberelor de refugiaţi din Ingusheţia, sunt introduse într-o complicată bază de date pe computer (victimă, executant, loc, oră, martor, sursă de informaţie). Ceea ce este impresionant în acest film, în afară de aparenta inutilitate din punct de vedere politic şi al percepţiei mass-media a demersului, este că nu vedem bărbaţi, bărbaţii ceceni din acest film sunt morţi, dispăruţi sau, în cel mai fericit caz, adormiţi pe canapea. Toată lupta este dusă de femei, femei care poartă cu ele zilnic un imens gol, un gol unde ar trebui să fie o familie, o viaţă. Deşi filmul tot nu scapă de tonul uşor patetic, accentuat şi de titlurile informative care apar pe ecran, precum şi de tranziţiile adesea brutale, dintre normalitate şi război clandestin, această luptă cu saci de plastic, casete zidite şi kilometri de negative aşteptând, cuminţi să fie acceptate ca mărturii, în timp ce cei care le cară şi propagă dispar este impresionantă. În timpul filmărilor, doi dintre cei intervievaţi au dispărut fără urmă. O masă de probe care vor căpăta glas când nu mai fi nimeni în viaţă? Oare nu va fi prea târziu? se întreabă realizatorul filmului Erik Bergkraut.[…] From: Helsingborgs Dagblad 15 februari 2005, Gunnar Bergdahl […]Dokumentären "Coca - duvan från Tjetjenien" av den unge tyske filmaren Eric Bergkraut har som huvudperson en 50-årig tjetjenisk kvinna som sedan 1994 dokumenterat på bild och band vad som faktiskt sker i detta skoningslösa krig på europeisk botten. I 200 år har tjetjenerna slagits för och krävt oberoende från Ryssland. I deras perspektiv går linjen rak mellan Stalins brutala svältkampanjer och folkförflyttningar av tjetjener under andra världskriget och Putins krigspolitik. För tio år sedan levde en miljon människor i Tjetjenien. Nu är det mindre än hälften, många samlade i flyktingläger. Beräkningarna på dödade människor i detta folkmordsliknande krig pendlar mellan 180 000 och 300 000. Filmen är full av sådana fakta om detta krig utan början, utan slut, utan hopp. Filmen hoppar fram och tillbaka mellan tjetjenier i landsflykt, den ryska journalisten Anna Politovskaja, den internationella domstolen i Strasbourg och Tjetjenien. Men det är de grovkorniga sekvenserna som Zainarp Gashaeva har samlat genom organisationen "Echo from the War" och håller gömda som gör filmen stundom outhärdligt grym. Alltid dessa sörjande kvinnor! Alltmedan den internationella domstolen förbereder sig för att någon gång inom de närmaste åren ta upp frågan pågår kriget dag för dag. Den internationella opinionen låter sig nöjas med Putins proklamationer om att kriget är del av offensiven mot den internationella terrorismen.[…]

Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 4. Juli 2004
DER SICHERSTE ORT RUSSLANDS — Reportage von Eric Bergkraut

Noch bevor der Kollege vom chinesischen Fernsehen sein Gepäck im Bus verstaut hat, macht er am Rande des öden Rollfeldes seine erste Ansage in die Kamera. Es ist heiss in Südrussland. Keine Ahnung, weshalb der Kreml uns aufgefordert hat, nach Mineralje Vody zu fliegen, es gibt Flughäfen, die viel näher an der Grenze zu Tschetschenien liegen. Ein untersetzter Mann fragt nach unseren Namen, die er von seiner Liste streicht, ohne sich selber uns vorzustellen. Slawa Petruschin heisst der Delegierte des Presseamtes des Kremls, und die Reisen, die er ein paar Mal pro Jahr durchführt, bieten die einzige legale Möglichkeit, sich ein Bild von der Lage in Tschetschenien zu machen. Die Republik im Nordkaukasus ist zu einer geschlossenen Zone geworden, in der täglich Männer und Frauen spurlos verschwinden; von der Einhaltung der Menschenrechte erst gar nicht zu reden. Vor dem Hintergrund der Deportation des tschetschenischen Volkes durch Stalin 1944, in deren Verlauf bis zu einem Drittel der Menschen umgekommen ist, sprechen manche von einem Genozid. Viele Bilder aus diesem Krieg sind so grausam, dass sie den Weg ins Fernsehen oder in Zeitschriften nicht finden: Leichen mit abgetrennten Körperteilen, schwangere tschetschenische Frauen, denen vor oder nach der Ermordung ein Holzscheit in die Vagina getrieben wurde, aber auch Tschetschenen, die Soldaten der föderalen russischen Armee bei lebendigem Leib den Kopf abschneiden. In der Darstellung des Kremls sind die beiden Kriege (1994-96, 1999-?) Geschichte und es finden nur noch „antiterroristische Operationen“ satt – trotz der Agenturmeldungen, die täglich von Kämpfen und Toten auf beiden Seiten berichten. Tschetschenien, das soll uns Slawa Petruschin vorführen, ist auf dem Weg der „Normalisierung“. Die Verschwundenen Der Bus setzt sich in Bewegung nach Prochladnoje in der Republik Kabardino-Balkarien, wo wir übernachten werden – je komplizierter die Anreise, desto kürzer der Aufenthalt in Tschetschenien. Der Kollege von France 2, zum zweiten Mal auf einer derartigen Reise, berechnet unseren „Handelswert“ für allfällige Geiselnehmer auf 25-30 Millionen Dollar, dabei sind u.a. BBC, Al Jazira , die New York Times und Le Figaro. Beim Frühstück erfahren wir, dass Rebellen in der Nachbarrepublik Inguschetien die prorussische Verwaltung angegriffen haben: 16 Tote, 40 Verletzte lautet die vorläufige Bilanz. Journalisten, die illegal nach Tschetschenien reisen, riskieren ihr Leben. Hamsad Abdurachamanow bot mir im letzten Dezember an, mich von Inguschetien aus in Begleitung eines Mannes in sein Land zu führen, der über die nötigen Papiere verfüge, um die berüchtigten Blockposts zu passieren. Ich lehnte ab. Abdurachmanow wurde am 23. Mai auf offener Strasse entführt. Die Chancen, dass er noch am Leben ist, sind gering. Laut amnesty international hat die Zahl der Verschwundenen in Inguschetien in den letzten Monaten dramatisch zugenommen. Zura Bitiewa, die vor dem Europäischen Gerichtshof in Strassburg gegen Russland geklagt hatte, wurde am 21. Mai 2003 im tschetschenischen Dorf Kalinowskaja zusammen mit drei anderen Familienmitgliedern von einer Todesschwadron liquidiert. Das erzählte mir eine Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial - als ich sie im März in Belgien besuchte, war sie selber in Gefahr geraten und man hatte ihr dringend geraten, Russland zu verlassen. Zwei Polizeifahrzeuge vorneweg, gepanzerte Jeeps vor und hinter unseren zwei Bussen, in denen auch Soldaten mit Maschinenpistolen und FSB-Leute Platz genommen haben, endlich sind wir unterwegs. Bestens gelaunt lässt sich der chinesische Kollege beim Wasser trinken filmen, dann steigt der Motor unseres Busses aus. Bis Mosdok, jener Stadt, wo letztes Jahr ein Selbstmordkommando in einem Militärspital über 50 Menschen getötet hatte, drängen wir uns alle in einen Bus, dann bleibt die Kolonne stehen. Die Kollegen der BBC wissen, dass die Opferzahl in Inguschetien auf 45 gestiegen ist, 200 Rebellen haben offen angegriffen, ist das nicht Krieg? Unsere Weiterreise ist in Frage gestellt. Im Schatten der Bäume trinkt Petruschin sein drittes Bier, der Kollege von Al Jazira biegt mit einer Vodkaflasche um die Ecke, es ist noch nicht einmal 12 Uhr. Tötet so viele ihr könnt! Irgendwo hat irgendjemand beschlossen, dass wir weiterfahren dürfen: Blutjunge Soldaten in Adidas-Schuhen und mit Carrera-Sonnenbrillen steigen in einen Panzerwagen und geben uns zusätzlichen Geleitschutz. BBC und Kanadisches Radio ziehen kugelsichere Westen an, an der Grenzstation empfängt uns überlebensgross ein Bild von Ahmed Kadyrow, dem „Präsidenten“ Tschtscheniens, der am 9.Mai ermordet wurde. Durch einen der russischen Geheimdienste, weil er die Ölgeschäfte nicht weiterhin den Föderalen überlassen wollte, meinen fast alle Tschetschenen; von einheimischen Feinden, vermutet man im Kreml. Kadyrow war während des ersten Tschetschenien-Krieges Mufti und rief zum Kampf gegen Moskau auf, später wechselte er die Seite. Letzten Oktober reiste er an der Seite der russischen Delegation nach Genf, ausgerechnet zu einer Sitzung des UNO-Ausschusses für Menschenrechte. „Vor ein paar Jahren haben Sie dazu aufgerufen, jeder Tschetschene müsse 150 Russen töten, um ins Paradies zu kommen.“ „Nein“, gab er zurück, „ich habe nicht gesagt: Tötet 150 oder 200. Ich habe einfach gesagt: Tötet so viele ihr könnt!“. In der Pinkelpause genehmigt sich Petruschin ein weiteres Bier, der Chinese lässt sich im Turm des Panzerwagens filmen und Al Jazira macht in einem Erdunterstand einen Stand-Up. Als ich in Genf den russischen Justizminister Chaika bat, in ein paar Sätzen die Gründe für diesen Kriegs zu erkären, sagte er, dazu brauche er nur zwei Wörter: „Internationaler Terrorismus“. Anna Politkovskaja schreibt für die Nowaja Gaseta, die ständig von der Schliessung bedroht ist, unbeirrbar über die Abgründe der russischen Tschetschenienpolitik. Sie bezeichnet die florierende Kriegswirtschaft als einen der Hauptgründe, weshalb der Frieden nicht kommt, zu viele Menschen auf zu vielen Seiten verdienten daran. In diesem Krieg kämpfen Tschetschenen, die sich einen unabhängigen, modernen Staat wünschen neben Fundamentalisten, die für die Errichtung eines Gottesstaates gerne ihr Leben opfern und Männern, die sich für die erlittenen Grausamkeiten rächen wollen. Vieles spricht dafür, dass die martialische russische Politik den Islamismus entscheidend gefördert hat. Die Wahabiten, aus dem Ausland gekommen, wurden erst in den letzten Jahren zu einem Machtfaktor in Tschetschenien. Wann wird dieser Krieg zu Ende sein, frage ich Slawa. „Never“. Warum? „Because of the mentality of the Chechns, they want to fight“. Und warum zieht ihr euch dann nicht zurück, täglich sterben hier doch auch junge Russen (und die, die zurückkehren, sind seelische Wracks)? „Because this is ours“. Nach zwei Stunden Fahrt sind wir in den Vorstädten von Grozny. Eine Ruinenstadt, die an die Bilder Dresdens nach dem 2. Weltkrieg gemahnt. Kahle Häuser links und rechts der Strasse, Zerstörung, wohin das Auge reicht. Öde Flächen mit nachwachsenden Bäumen und Sträuchern in üppigem Grün, die beinah vergessen machen, dass hier einmal Menschen gelebt haben. Als Putin nach dem Mord an Kadyrow im Helikopter über Grozny flog, zeigte er sich schockiert über den Zustand der Stadt. Er schickte seinen Wirtschaftsminister Gref, der erklärte: „Das sieht ja ganz anders aus als im Fernsehen“. Die Zensur hatte selbst den Minister überzeugt. Der nächste Präsident Tschetscheniens Im hermetisch abgeriegelten Regierunsgelände treffen wir drei Männer: Der Präsident des Verfassungsrates (vor einem Putin-Porträt) schreibt den Abschlag in Inguschetien ausländischen Banditen zu. Freier Journalismus sei durchaus möglich meint er, was Anna Politkovskaja beweise (Anna wird nur den Kopf schütteln, als ich ihr das erzähle). Der Präsident der Kommission, welche die Präsidentschaftswahlen vom 29. August überwachen soll, sitzt vor einem Putin-Brustbild und erklärt, am Wahltag seien alle Beobachter jederzeit überall willkommen. Und man erinnert sich daran, wie bei den letzten Wahlen missliebige Kandidaten ausgetrickst und der Wahlvorgang selber massiv gefälscht wurde. Dann besuchen wir den nächsten Präsidenten Tschetscheniens. Ich kann das so schreiben, weil Slawa (wir sprechen uns jetzt mit Vornamen an) erklärt hat: „He will be next President, this is political will“. Innenminister Alkhanov (vor Foto von Shake-Hand zwischen Putin und Kadyrow) empfängt im Büro seines gefürchteten Polizeidienstes OMON. Alkanov stand schon im ersten Krieg auf der Seite Moskaus und hat vor drei Tagen erklärt, es gebe nur noch 500 aktive Rebellen… Die BBC fragt, ob es zum Wohle der Menschen nicht endlich Zeit sei, mit dem vernünftigen Teil der Gegner zu verhandeln und eine politische Lösung zu suchen. Alkhanov schüttelt den Kopf, alle Gangster müssten sich alle ergeben. Wir schlafen in der Kaserne des 46. Armee-Regimentes, drei Schutzringe mit Minenfeldern sind um das riesige Gelände gelegt, zusätzliche Gebäude werden hochgezogen. Auf etwa acht Einwohner kommt in Tschetschenien ein Soldat, sind das nicht die Verhältnisse eines besetzten Landes? Im Innern der Kaserne steht ein überdimensioniertes Putin-Bild neben einem Zitat des russischen Generals Ermolov, der im 19. Jahrhundert im Auftrag des Zaren gegen die Tschetschenen gekämpft hat: „Nicht ein einiges Stück dieser Erde wird uns entgehen. Wir sind hier bis in die Ewigkeit“. Politkovskaja fällt mir ein, die sagt, dies sei ein Kolonialkrieg. Der Chinese scheint der stämmigen Quartiermeistertin im Offizierstrakt herzlich verbunden, er schenkt ihr Tee. Drei Aquarien mit exotischen Fischen zieren den Vorraum unseres Wohnhauses (Kosten: 1000 Rubel pro Nacht und Person), das Essen ist scheusslich (aber im Preis inbegriffen), einziger Trost die gezuckerte Kondesmilch in der Schale, die es zum Dessert gibt, eine Kindheitserinnerung immerhin. Die Abendnachrichten melden, dass die Zahl der Opfer in Inguschetien auf 95 gestiegen sei. Die BBC sitzt bis tief in die Nacht über ihren Berichten, der Reporter der New York Times tippt seinen Artikel unter freiem Himmel in den Lap-Top und der Phönix-Korrespondent erklärt, dass vom ersten Tag schon 16 Stunden Rohmaterial vorlägen. Na dann. Die „Tschetschenisierung“ des Konfliktes Zum Frühstück werden beträchtliche Mengen Fleisch serviert, südlich von Grozny hat es neue Kämpfe mit zehn Toten gegeben. Um 9.30 Uhr brechen wir auf, nachdem die Strassen von möglichen Minen befreit wurden (Tschetschenien steht nicht nur an der Spitze in der Anzahl der Asylgesuche im Ausland, sondern auch bei den Minentoten zuhause). Slawa fasst sich an den Kopf und teilt mit, er habe abends noch auf Vodka umgestellt. Den Stopp zum Wasserkauf nutzt Laurent Stoop und filmt drei Jungs vor einer Ruinenkulisse, ich kaufe Birnen und komme mir etwas läppisch vor, als ich sie ihnen gebe. Von Leibwächtern links und rechts eskortiert, versuchen wir mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, unwürdig für alle Beteiligten und dennoch ergreifend, sind sie doch alle am Ende ihrer Kräfte. Ein junger Tschetschene, der in der Schweiz Asyl sucht, prognostiziert, der Partisanenkrieg werde bald zum Erliegen kommen, aber in 20 oder 30 Jahren, wenn sich sein Volk sich erholt habe, werde ein neuer Krieg ausbrechen. Vielleicht gäbe es für Tschetschenien eine andere Lösung: Eine international garantierte Autonomie innerhalb der russischen Föderation. Voraussetzung dazu wäre, dass sich Vladimir Putin den Misserfolg seiner Politik eingesteht. Und unsere Politiker endlich laut und deutlich erklärten, dass inakzeptabel ist, was im Kaukasus passiert. Bevor wir Ramsan Kadyrow besuchen, der im Rufe steht, die brutalste alle Milizen zu befehligen, geht es in ein Nähatelier. Frauen sitzen zwar vor Maschinen, haben aber nichts zu tun, weil es keinen Strom gibt und wenn ich sie richtig verstehe, sind sie nur wegen uns hier. Ramsan wohnt in Gudermes und hier wiederum in einer gespenstischen Stadt in der Stadt, mehrfach gesichert . Das „Ramsan Zenter“, wo junge Männer zu Ringern und Boxern ausgebildet ist eine moderne Sportanlage mit Freizeitpark, auf die manche Schweizer Gemeinde stolz wäre. Als ich Slawa vor dem Zenter bitte, Ramsan kurz vorzustellen, müssen wir die Aufnahme drei mal wiederholen, er ist richtig besoffen. Auf Ramsans Tisch liegt ein Buch von Putin, er begrüsst den Chinesen per Handdruck und erklärt dann in die versammelten Mikrophone „Tschetschenien ist eine der sichersten Gegenden der russischen Föderation“. Bin ich im falschen Film? Sein Vater, vor ein paar Wochen ermordet, hat in Genf fast den selben Satz gesagt. Naiv vermutlich, aber ich nutze das Interview, das mir der Vize-Premier Tschetscheniens gibt, um ihn zu bitten, nach Hamsad A. zu suchen, liefere Namen und mögliche Kontaktnummern, vielleicht hat ein Sohn kurz nach dem Tod seines Vaters ein offeneres Herz als sonst. „Tag und Nacht“ werde er sich der Sache annehmen, versichert Ramsan und steckt meinen Zettel ein, die Hand gibt er mir nicht. Später erklärt mir Slawa unaufgefordert, dass er heute nur noch Milch trinken werde und über Ramsan sagt er „He is a little bit crazy, but he has a lot of soldiers“. Eine Theorie lautet, dass Moskau sich von Ramsan trennen wolle, aber verhindern müsse, dass er die Seiten wechsle. „You know”, höre ich Slawa sagen, “I think he will follow his father. He will not become very old, he has got so much enemies !“ – derselbe Slawa, der Ramsan vor ein paar Minuten kumpelhaft umarmt hat. „Tschetschenisierung“ lautet das Stichwort zur aktuellen Kreml-Politik, Einheimische sollen Verantwortung übernehmen. Andere glauben, Ziel sei es, dass Tschetschenen sich gegenseitig umbringen sollten, damit Moskau Ruhe habe. Flüchtlinge und noch ein Springbrunnen Abends artikuliert Slawa mit grosser Mühe und ist in sentimentaler Stimmung: „How is this trip?“, will er wissen und steht in kurzen Adidas-Hosen unter der Tür. Ihm selber gefalle die Reise gut, auch weil keine impertinenten Frauen dabei seien. „Very good trip!“ sagen die beiden Al Jaziras wie aus einem Mund, bevor sie Slawa zu einem Schlummertrunk mitnehmen. Der russische Kameramann des Chinesen klagt im gedämpften grünen Nachtlicht, er werde dauernd zusammengestaucht, weil er seinen Chef zu wenig im Bild zeige, dieser sei in China so bekannt, dass er im Taxi niemals bezahlen müsse. Am nächsten Morgen möchten wir zurückgekehrte Flüchtlinge besuchen. Zehntausende wurden gezwungen, aus den Lagern in Inguschetien in ihre Heimat zurückzukehren, versprochen wurden ihnen Kompensationszahlungen für zerstörte Häuser. Menschenrechtsorganisationen berichten, die Heimkehrer müssten häufig die erste Hälfte der Zahlungen in den Aemtern lassen, um die zweite mitnehmen zu können oder sie würden entführt, weil irgend eine der Milizen um das Geld wisse. Slawa aber fährt zum einzig renovierten Platz von Grozny, mit hübschem Springbunnen und Strassencafés; dahin, wo die russischen Korrespondenten ihre Stand-Ups zu machen pflegen. Wir bestehen darauf, den vollständig zerstörten ehemaligen Präsidentenplatz zu sehen (heute eine etwa zehn Fussballfelder grosse Oedlandschaft), an dessen Rand ein bescheidener Handel mit Baumaterial eingesetzt hat. „You should invest here when the compensations come“, sagt Andrei vom FSB. Geht nicht ein Teil davon direkt zu Ramsan, frage ich Slawa. „Big part“, sagt er und schmunzelt. Als Slawa in Mosdok die Sonnenbrille ablegt, sehe ich, wie aufgequollen seine Augenlieder sind. Wenn sein Auftrag war, uns möglichst wenig sehen zu lassen, hat er einen guten Job gemacht, natürlich ist für die Flüchtlinge keine Zeit geblieben. Ich weiss nicht, wie ernst Slawas mehrmalige Bemerkung zu nehmen war, für 100 Dollar könne er uns mehr zeigen. Was war gezielte Desinformation, was Wurstigkeit und was schierer Ausdruck von Trunkenheit? Jedenfalls müssen wir uns selber um die Fahrt nach Mineralnye Vody kümmern. Den Flug, den Slawa uns zu buchen geraten hatte, verpassen wir. Für das letzte Flugzeug des Tages gibt es zwar noch zwei Ticktes, aber der Chinese war schneller… In Moskau führt uns Anna Politkovskaja ein Video vor, das im März 2000 aufgenommen wurde und tschetschenische Gefangene zeigt, die von einem LKW in einen Eisenbahnwagen umgeladen werden. Der Laster trägt die offiziellen Insignien des russischen Justizministeriums. Ein Teil der Insassen ist tot und wird von den Lebenden zu einem Leichenhaufen zusammengetragen. Ab und zu tritt einer der Soldaten auf einem Toten herum, manche Toten scheinen Folterspuren zu tragen, einmal hört man eine Stimme sagen „vergiss die Zahnbürste nicht“. Die Szene ist so ruhig gefilmt, als handle es sich um ein elektronisches Protokoll. Niemand im russischen Fernsehen käme laut Anna auf die Idee, die Geschichte der Aufnahme zu recherchieren und sie auszustrahlen. Sie wirkt heute traurig und irgendwie mutlos. In ihrem Land, sagt die Journalistin, herrschten wieder Verhältnisse wie zu Sowjetzeiten.